Hamburg – Film: „Poor Things“


Ich war am 29.09.23 in Hamburg und am 19.12.23 in Boston und habe mir folgenden Film im Kino angeschaut:

„Poor Things“(dt. Kinostart: 18.01.24)   141 min   comedy, fantasy, drama, adaptation

dir. Yorgos Lanthimos  cast: Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Jerrod Carmichael, Christopher Abbott, Margaret Qualley, Kathryn Hunter, Hanny Schygulla

Bella Baxter (Emma Stone) ist eine junge Frau, die von dem schrecklich entstellten Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) von den Toten zurück ins Leben geholt wurde. Sie hat zwar den Körper einer hübschen Lady, aber das Gehirn eines Babys. Der Medizinstudent Max McCandless (Ramy Youssef) bekommt von seinem Professor, eben diesem unorthodoxen Dr. Godwin Baxter, einen seltsamen Forschungsauftrag. Er soll jeden Fortschritt von Bella Baxter protokollieren. Max ist bei den ersten Begegnungen mit Bella verwirrt, verhält sich diese erwachsene Frau doch wie ein Kleinkind, das gerade das Sprechen und Laufen lernt. Am Anfang sind es nur fünfzehn Wörter pro Tag, aber sie lernt schnell, ist lebenshungrig und kommt schon bald in die Pubertät und entwickelt dann einen ausgeprägten Sexualtrieb…

A (Wertung von A bis F) „Poor Things“ basiert auf Alasdair Grays gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1992. Nachdem der schottische Autor den Film Dogtooth gesehen hat, hat er Yorgos Lanthimos das Okay gegeben, seinen Roman zu verfilmen. Es hat dann aber noch viele Jahre gedauert, bis der griechische Filmemacher und Drehbuchautor (The Lobster, The Killing of a Sacred Deer, The Favourite) diesen Film realisieren konnte. Das Drehbuch zu diesem Film hat Tony McNamara („The Favourite“, „Cruella“) geschrieben. 

Vermutlich saß ich den gesamten Film über honigkuchenpferd-grinsend im Kino, was gelegentlich vom Staunen über die atemberaubenden Bühnenbilder oder lauthals Lachen über Situationen oder Feinheiten unterbrochen wurde. Was für eine schräge, exzentrische, aber auch fantasie- und hingebungsvolle Veranstaltung „Poor Things“ ist. Mit sehr, sehr viel Liebe zum sehr, sehr schrägen Detail inszeniert Yorgos Lanthimos hier einen visionären Film, den man so definitiv noch nicht gesehen hat. Weil mich seine unkonventionelle Erzähl- und Gestaltungskunst grundsätzlich begeistert, wusste ich im Vorhinein, das ich den Film mögen werde, „Poor Things“ ist aber mein neuer Herzensfilm.  

Im Mittelpunkt von „Poor Things“ steht Bella, eine junge attraktive Frau, die sich wie ein Kleinkind verhält. Was sie nicht weiß, sie ist ein Experiment und ihr entstellter, aber genialer Schöpfer (den Bella „God“ nennt) hat sie ins Leben zurück geholt und ihr dabei das Gehirn eines Babys eingepflanzt. Optisch ist sie also eine Frau, aber sie verhält sich wie ein Kleinkind und später wie eine Heranwachsende, die die Welt und ihre Sexualität entdeckt, sich mit den Härten des Lebens konfrontiert sieht und lernt, was Gerechtigkeit bedeutet. 

„Poor Things“ ist also eine Art Frankenstein-Erzählung, aber eine, die Überraschungen parat hält. Irgendwo habe ich gelesen, dass diese Geschichte der des Films Barbie ähnelt. Da wäre ich selber nicht drauf gekommen, habe aber darüber nachgedacht und tatsächlich ist es nicht von der Hand zu weisen. Beides sind feministische Filme, Bella Baxter und Barbie sind (von ihren Schöpfern) entworfen und zum Leben erweckt, werden unschuldig wie sie sind, beide mit der realen Welt konfrontiert und am Ende sind sie eine andere, als zu Beginn ihrer Reise. Während „Barbie“ ein Film für das Mainstream-Publikum ist, ist es „Poor Things“ definitiv nicht, dafür ist er zu schrill und abgedreht und durch die vielen Nackt- und Sexszenen vielleicht auch für manch einen (gerade unter den amerikanischen) Zuschauern zu verstörend. 

Wenn das mal nicht die Performance von Emma Stone ist, die ihr nach La La Land den zweiten Oscar einbringt. Verdient wäre es. Sie präsentiert hier eine große Bandbreite, wie noch nie zuvor. Sie ist ein ungezogene Rotzblage, ein unbeholfenes, neugieriges und naives Mädchen, das durch die Welt stakst, eine plumpe aber sexy Verführerin und eine Erwachsene, die das Leben zu verstehen lernt – manche Male ist sie auch irgendwie alles zusammen. Eine Wahnsinnsperformance. Emma Stone ist Bella Baxter. Die Rolle fordert einiges von ihr, außerdem zeigt sie sich auch mehrere Male komplett nackt. In meiner Vorstellungskraft existiert keine Schauspielerin, die Bella so unschuldig, trotzig, sexy und bauernschlau porträtieren könnte.

Mark Ruffalo spielt hier den Anwalt Duncan Wedderburn, er hat ein robustes Ego, ist ein Lebemann und Herzensbrecher, der sich Bella schnappt und ihr die Welt zeigt. Er denkt er hat ein einfaches Spiel mit Bella und irrt sich gewaltig. Das Zusammenspiel von Emma Stone und Mark Ruffalo ist unfassbar witzig, die reinste Gaudi. Ich liebe die Tanzszene und so viele weitere Szenen. Willem Dafoe ist natürlich auch gut, ist er immer, wenn ich mich aber nur für eine weitere Oscar-Nominierung für eine/n Schauspieler/in entscheiden müsste, dann wäre es die für Kathryn Hunter (ich hatte es schon in meinem Beitrag zu Joel Coens The Tragedy of Macbeth erwähnt, ich liebe ihre Stimme), die hier die Puffmutter spielt. 

Yorgos Lanthimos inszeniert das Geschehen prachtvoll, mal in Schwarz/Weiß, mal in Farbe, oft aus der Fischaugenperspektive, bestückt mit seltsamen menschlichen und tierischen Kreaturen, zu denen man durch seine Kreativität, als Zuschauer selbst eine Liebe aufbaut. Jede einzelne Szene ist faszinierend. Die Regiearbeit, das Drehbuch, die Szenenbilder, das Kostümdesign, die Musik, die Kamera, die Schauspieler – alles ergibt für mich ein innovatives Gesamtkunstwerk.

Update nach meinem 2. Kinobesuch: Ungefähr 3 Monate nachdem ich „Poor Things“ auf dem Filmfest Hamburg gesehen habe, hatte ich die Gelegenheit mir den Film nochmal mit einem amerikanischen Publikum in einem Mainstream-Kino anzuschauen. Wenn man selbst weiss, was kommt, ist es gerade bei diesem Film spannend, wie andere Zuschauer darauf reagieren. Während ich von Anfang bis Ende vor Amüsement strahlte und lachte, lachten meine Mitzuschauer hauptsächlich bei Mark Ruffalos Reaktionen. Am Ende wurde in meiner gut besuchten Vorstellung an einem Dienstag Mittag aber applaudiert. Das habe ich schon länger nicht mehr erlebt. Ich liebe den Film für seine Originalität, Andersartigkeit, seinen schrägen Filmscore, der ganz selbstverständlich dazu passt, die Ausstattung (insbesondere das Haus von Godwin Baxter, das Innere des Schiffes, die Einrichtung von Swineys Etablissements), ich liebe natürlich besonders Bella und Duncan Wedderburn in ihrer Entwicklung und ihrem Zusammenspiel (brillante Performance von Emma Stone und Mark Ruffalo), usw.

„Poor Things“ ist mein Lieblingsfilm 2023, hier meine komplette Top Ten-Liste aus dem Jahr 2023. 

„Poor Things“ ist für einige Oscar-Nominierungen im Gespräch, u.a. Bester Film, Beste Regie, Beste Hauptdarstellerin (Emma Stone), Bester Nebendarsteller (Mark Ruffalo, Willem Dafoe), Beste Nebendarstellerin (Kathryn Hunter), Bestes adaptiertes Drehbuch und einige technische Kategorien. Update: „Poor Things“ wurde für 11 Oscars (Bester Film, Beste Regie, Beste Hauptdarstellerin, Emma Stone, Bester Nebendarsteller, Mark Ruffalo, Bestes adaptiertes Drehbuch, Beste Kamera, Bester Schnitt, Bestes Szenenbild, Beste Filmmusik, Bestes Kostümdesign, Bestes Make-up und Beste Frisuren) nominiert Update: „Poor Things“ hat 4 Oscars gewonnen (Beste Hauptdarstellerin/Emma Stone, Bestes Setdesign, Bestes Kostümdesign, Bestes Make-up und Beste Frisuren)

„Poor Things“ wurde erstmalig auf dem Venice International Film Festival 2023 gezeigt. Auf diesem Filmfestival hat der Film den Hauptpreis (den Goldenen Löwen) und einen weiteren (UNIMED Award) gewonnen. „Poor Things“ sollte ursprünglich am 8.9.23 in die amerikanischen Kinos kommen, wurde aber – aufgrund des Autoren- und Schauspielstreiks – auf den 08.12.23 verschoben. Für Deutschland ist ein Kinostart für den 08.02.24 geplant. Update: Der Film wurde vorgezogen und startet jetzt bereits schon am 18.01.24 in den deutschen Kinos. Ich habe den Film auf dem  Filmfest Hamburg gesehen. Es war die Deutschlandpremiere. Der Film lief in der Sektion Transatlantik und wurde in der OF mit deutschen Untertiteln gezeigt. 

Trailer zu sehen: 

4 Gedanken zu “Hamburg – Film: „Poor Things“

  1. Aus diesen Film freue ich mich schon seit Monaten. Leider wurde der deutsche Kinostart auf Februar 2024 verschoben. Sämtliche Reviews, die ich bisher gelesen habe, sind positiv. „The Killing of a Sacred Deer“ und „The Favourite“ fand ich auf ihre jeweils eigenwillige Weise stark. Bin jedenfalls sehr gespannt.

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  2. Es macht mich total fertig, dass meine WordPress Abos seit Monaten nicht mehr funktionieren und ich hier alles verpasse!
    Oh man, hier freue ich mich drauf. Leider habe ich im Kino bislang den Trailer nur einmal gesehen und befürchte dieser wunderbare Film landet in einem staubigen Off-Kino mit winziger Leinwand, aber sei es drum, den muss ich im Kino sehen.

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    • Okay, ist natürlich blöd.

      Ich schätze eigentlich schon, dass sie den groß starten werden. Aber gut, heute war ich auch in einem Off-Kino (Filmrauschpalast – noch nie zuvor davon gehört) in Berlin, weil ich unbedingt den neuen David Fincher-Film im Original im Kino sehen wollte.

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